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Als das Urserental beinahe geflutet wurde


Ein Wasserkraftwerk, so gross wie kein anderes damals, wollten die Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) im Kanton Uri bauen. Es war ein gigantisches Projekt: Das ganze Urserental sollte dafür geflutet werden. Soweit kam es nicht. Die Einheimischen hatten sich buchstäblich mit Händen und Füssen dagegen gewehrt. 75 Jahre ist das nun her.

Fritz Ringwald Bild: wikipedia

Fritz Ringwald war ein entschiedener Verfechter der Wasserkraft. Der Elektrizität sagte der Direktor der Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) eine grosse Zukunft voraus. Schon im Ersten Weltkrieg hatte das Land mit knapper werdenden Kohlevorräten zu kämpfen, künftig sollte die Elektrizität aus heimischer Produktion die Schweiz auch in Krisenzeiten versorgen.

Sein Unternehmen wollte mit einem Grossprojekt da mit dabei sein. Zusammen mit der SBB, einer Bank und der späteren Elektrowatt plante die Luzerner CKW das Wasserkraftprojekt Urseren, das Grossakkumulierwerk Andermatt. Der Zeitung «Der Bund» erklärte er 1942: «Im Urserental könnte man mitten in der Schweiz, ein riesiges Wasserfass erstellen, das im Winter wertvolle Kraft spenden würde.»

Schon während des ersten Weltkriegs hatte die CKW ein erstes Projekt präsentiert. Eine 90 Meter hohe Staumauer für einen Stausee mit 280 Millionen Kubiklitern Wasser. 1920 erhoben die drei Gemeinden Andermatt, Hospental und Realp aber Einspruch. Ihre Dörfer sollten verlegt werden.

 

Gegen Verschleuderung von Kulturland

Wie gross der Widerstand gegenüber diesem ersten Projekt gewesen war, liest man in der NZZ vom 1. Juni 1920. Auch die Bundesbehörden wurden darin in die Verantwortung genommen:

«Es ist recht, wenn der Heimatschutz sich wehrt, aber noch viel nützlicher wird es sein, wenn von den Bundesbehörden aus Anstalten getroffen werden, um einer unangebrachten Verschleuderung und Vernichtung landwirtschaftlichen Kulturlandes mit Erfolg entgegen zu wirken. In einem Land, wo jährlich Millionen zur Melioration von Ländereien und zur Schaffung von Neuland ausgegeben werden, kann man nicht ruhig zusehen, wie auf der anderen Seite, ohne dass eine Notwendigkeit hierfür vorliegt, wertvolles Kulturland preisgegeben wird.»

«Nun kann man sich fragen, ob der Verlust an Kulturland hier nicht ganz, oder mehrfach aufgewogen werde durch die Werte, die dem Lande durch ein so grosses Kraftwerk geschaffen werden. Aber eine Ausnützung der Wasserkräfte auf Kosten von kulturfähigem Boden ist mit den allgemeinen Landesinteressen unvereinbar. Und zum Glück hat man ja in der elektrischen Kraftübertragung nicht nur ein bequemes Mittel zur Hinleitung der Kräfte, wohin man nur will, sondern auch zur Herleitung von solchen, woher man will.»

Die CKW stoppten schliesslich das Projekt. Mit dem 1921 begonnenen Bau des Kraftwerk Lungerersee waren die finanziellen Mittel der CKW gebunden, so dass diese nicht mehr auf eine Entscheidung bezüglich einer Baubewilligung drängten.

Ein neuer Anlauf

1935 kam die Idee eines Urserenstausees wieder aufs Tapet – dieses Mal von Bundesseite: Im Rahmen einer Untersuchung über die verfügbaren Wasserkräfte in der Schweiz schlug das Bundesamt für Wasserwirtschaft ein neues Projekt vor. Es war dies das erste Projekt, das die Überstauung aller Dörfer im Urserental vorschlug und auch Zuleitungen vorsah, um auch das Wasser von den Nachbartälern in den See zu bringen. Allerdings: Das staatlich ausgearbeitete Projekt hatte keine unternehmerische Zielsetzung, so dass es nicht aktiv weiterverfolgt wurde.

Der Hintergrund:

Während des Zweiten Weltkriegs stieg der elektrische Energieverbrauch sprunghaft an. Es kam zu Engpässen in der Versorgung hauptsächlich während der Wintermonate, in denen die Produktion der Laufwasserkraftwerke wegen des niedrigen Wasserstandes der Flüsse zurückging. Gleichzeitig stieg der Energiebedarf fürs Heizen. Es wurde deshalb dringend nach Möglichkeiten für den Bau von Speicherkraftwerken gesucht, welche die Möglichkeit boten, das im Sommer von der Schneeschmelze anfallende Wasser im Stausee aufzubewahren und erst im Winter für die elektrische Energieerzeugung zu nutzen.

 

Im November 1940 legten die CKW dann ein neues Projekt für ein Wasserkraftwerk im Urserental vor. Ein Riegel beim oberen Eingang der Schöllenenschlucht sollte das Tal verschliessen. Geplant war nun eine 200 Meter hohe Mauer, welche die Reuss stauen sollte. Die Dimension des Vorhabens sollte neue Masstäbe setzen. Ein 10 km langer Stausee mit einem Fassungsvolumen von 1200 Millionen Kubikmeter Wasser. Ein so grosses Kraftwerk gab es bisher nicht in der Schweiz. Kostenpunkt: 1128,4 Millionen Franken (Preisbasis 1939), eine für damalige Verhältnisse gigantische Summe.

Plan vom Stausee Urseren und wie die Verlegung der Verkehrswege geplant war. zvg: CKW

Das Urseren-Kraftwerk würde mit 2,8 Milliarden kWh doppelt so viel Strom produzieren wie das grösste heute bestehende Wasserkraftwerk Grande Dixence im Wallis und hätte die Hälfte des damaligen Landesbedarfs gedeckt. Andermatt, Realp und Hospental sollten dafür im Wasser verschwinden, und oberhalb des Sees neu gebaut werden. Die Gotthard-Passstrasse sollte verlegt werden.

In einer Broschüre wurde über Neu-Andermatt geschwärmt: «Statt des durch Kasernen, Baracken und monotone Hotelbauten verunstalteten Talgrundes und der mit Gräben durchfurchten Allmend würden Wanderer gebannt stehen, um den tiefblauen Bergsee vor sich ausgebreitet zu sehen, in dessen klarem Wasser sich die majestätischen Riesen der Hochgebirgswelt spiegeln.»

«Nicht aus Grossmannssucht»

Gegenüber der Zeitung «Der Bund» sagte CKW-Chef und Ingenieur Fritz Ringwald 1942: «Ein so gewaltiges Werk wollen wir nicht aus Grossmannssucht bauen, sondern weil diese Kraft von der Wirtschaft verlangt wird.» Und er schwärmte: «Der Reuss würde tagsüber ein minimales Wasserquantum im Flussbett belassen, um der von Wasserfällen belebten Schöllenenschlucht ihren wildromantischen Charakter zu wahren. Aber auch durch die Druckstollen flösse im Sommer nichts ab. Alles Wasser würde für den Winter gespart.»

So gross die Begeisterung bei den CKW war, so klein war sie bei den Einheimischen. Gut 250 Häuser standen damals im Urserental. Gut 2000 Einwohnerinnen und Einwohner lebten dort, Bergler und Landwirte, die im Talboden ihr Auskommen fanden und kaum je das Tal verlassen hatten, dazu noch rund 1300 Stück Rindvieh sowie fast 2000 Ziegen und Schafe. Eine Umsiedlung? Für die meisten undenkbar. Ihr Land hergeben, damit es in den Fluten eines Stausees versinkt, unvorstellbar.

«D Gesslerzytä sind verby»

An einer Protestversammlung in Andermatt im August 1941 fällt folgende Bemerkung, wie die Zeitung «Gewerkschaft» im Februar 1983 schreibt:

«Soll das Urserental mit seinen drei Ortschaften, seiner bodenständigen, braven Bevölkerung, seiner herrlichen Bergwelt, seiner ruhmreichen Geschichte und uralten Tradition den heutigen Spekulations-, Sonder- und Konkurrenzinteressen, dem kilowatthändlerischen Geist zum Opfer fallen?»

Die Urschner Mundartdichterin Marie Meyer-Bollschweiler formulierte ihren Unmut in einem Gedicht, mit dem die Protestversammlung eröffnet wurde.

Aber nicht nur das Projekt an und für sich stiess auf Widerstand. Auch das Vorgehen der Kraftwerk-Promotoren sorgte für Unmut im Tal. Sie schickten Agenten ins Urserental, um die Bauern zur Abgabe ihres Landes zu bewegen. In den Neuen Zürcher Nachrichten vom 3. August 1945 stand folgendes:

«Sie meinen, mit den Bauern ein wenig zu jassen und zu spassen, sie zu einem Gratistrunk und Vesper einzuladen und dann würden sie sicher einwilligen. Aber: Der Urner Bauer ist schlau und verschlossen und lässt sich nicht so leicht mit jedem Fremden ein. Hier könnten vielleicht einmal die schlauen Agenten dem noch schlaueren Bergbauer zum Opfer fallen

«Zudem ist er (der Bauer) kein Kosmopolit wie der Kapitalist, der eben dort seine Heimat hat, wo sein Geld rollt, dem die Aussenwelt nichts mehr sagt, sondern nur der Mammon. Den Bauer macht nicht das Geld glücklich, sondern Arbeit und Pflege seiner Scholle, mit der er verwurzelt bleibt, wie die Bergarve mit dem Boden

Handfester Protest

Die Stimmung unter den Einheimischen war alles andere als wohlwollend. Am 19. Februar 1946 eskalierte die Situation schliesslich. Was damals passierte, sollte als «Krawall von Andermatt» in die Geschichte eingehen.

An diesem Tag war Karl J. Fetz ins Urserental gekommen. Er war bei den CKW «Beauftragter für Landangelegenheiten», er sollte dafür sorgen, dass das Elektrizitätsunternehmen in den Besitz des Landes kam. Einzelne hatten bereits verkauft, darunter zwei Hotels. Doch: Wie entschlossen die meisten an ihrem Land festhielten, sollte Fetz am eigenen Leib erleben müssen.

250 Leute, Frauen und Männer stürmten das Hotel, in dem Fetz logierte. Sie zerrten ihn mit Gewalt aus dem Hotel und trieben ihn auf dem Bahntrassee hinunter nach Göschenen. Darauf verwüsteten sie noch ein Architekturbüro, in dem die Pläne und Modelle für den Stausee entstanden sind, rekapitulierte das NZZ Folio in seinem Artikel vom September 2020 «Wie das Urserental beinahe unterging».

Stauseeprojekt wird versenkt

Der Sohn von Karl J. Fetz, Linus Fetz – er ging damals noch in den Kindergarten – erinnert sich in einem Bericht in der Aargauer Zeitung vom Juli 2012, wie sein Vater damals nach Hause kam: «Vater konnte kaum sitzen. Bis heute sehe ich die Eindrücke der Trigguni-Nägel auf seinem Rücken. Man ist mit Nagelschuhen auf ihm herumgetrampelt.» Quetsch- und Risswunden, Rippenbruch, Querfissur des Kreuzbeins, Gehirnerschütterung. 95 Tage lang sei er arbeitsunfähig gewesen.

Die Krawallanten wurden zu milden Strafen verurteilt. Und Fetz erhielt wegen falscher Anschuldigung eine Busse, weil er den damaligen Urner Regierungs- und Ständerat Ludwig Danioth als geistigen Anstifter bezeichnet hatte. Das Verdikt des Gerichts sei «eine eigentliche Gemeinheit» schrieb die Zeitung «Tat» im Mai 1948. Das Bundesgericht korrigierte dann diese Urteile.

Alternative auf der Göscheneralp

Die Initianten unter der Leitung der CKW reichten schliesslich doch noch ein Konzessionsgesuch ein, das die Urner Regierung dann aber ablehnte. Am 30. Juni 1951 wurde das Stauseeprojekt Urseren endgültig begraben. Unterdessen war eine einfacher zu realisierende Alternative in Sicht. Ein Kraftwerk auf der Göscheneralp.

«Dort waren die Voraussetzungen für einen Stausee optimal: das stark vergletscherte Gebiet versprach auch in regenfreien Zeiten Wasser», liest man auf der Homepage der CKW. Die CKW gründeten zusammen mit der SBB ein Gemeinschaftsunternehmen und übernahm die Geschäftsführung. Das damals grösste Kraftwerk der Schweiz entstand. Aus Kostengründen wurde ein 155 Meter hoher und 700 Meter breiter Steindamm statt einer Betonmauer gebaut.

1952 wird das Konzessionsgesuch für den Stausee eingereicht, der ein nur dünn besiedeltes Gebiet überfluten sollte. Die Einheimischen wehrten sich zwar auch dagegen, doch ohne Unterstützung von Behörden und Öffentlichkeit standen sie auf verlorenem Posten. 1954 stimmt der Urner Landrat dem Projekt zu. 1962 geht das neue Kraftwerk in Betrieb. 2020 produzierte es rund 440 Millionen kWh Strom und gilt damit nach wie vor als eines der grossen Wasserkraftwerke in der Schweiz.

Brigitte Mader, Kommunikation, Bundesamt für Energie

 

Wasserkraft im Urserental:

Kein Stausee, aber verschiedene Laufwasserkraftwerke: Die Wasserkraft im Urserental wird durchaus genutzt.

1902 ging das Wasserkraftwerk Hospental in Betrieb. Das Werk nutzt die Wasserkraft der Gotthardreuss und produziert im Jahresdurchschnitt rund 7,5 Mio. kWh an elektrischer Energie.

Seit 1913 liefert das Wasserkraftwerk Realp Energie. 2007, nach 800’000 Betriebsstunden, wurde die Anlage komplett neu gebaut. Dadurch gelang es, die Jahresproduktion von 2,4 auf rund 4 Mio. kWh zu steigern.

1962 nahm das Kraftwerk Oberalp seinen Betrieb auf. Es ist die einzige Anlage des Elektriztitätswerks Urseren, die über eine Speichermöglichkeit verfügt. Mit dem Oberalpsee und der Stauanlage in der „Schön“ kann die Energieproduktion reguliert werden.

Seit Ende 2017 ist das Kraftwerk Realp II in Betrieb und produziert jährlich rund 10 GWh. Damit können umgerechnet ca. 2500 Haushalte mit erneuerbarer Energie aus Wasserkraft versorgt werden.

1 Antwort
  1. werner plüss
    werner plüss sagte:

    Zurück in die Zukunft. Heute fehlen uns in den Winternächten bis 3 GW – sofort verfügbar. Wir sind Import abhängig, meistens Kohlestrom aus Deutschland. Damit ist aber Schluss am Ende dieses Jahres.

    Woher dann, in 8 Monaten, diese gewaltige Menge kommen soll, hat mir bis jetzt noch niemand klar und deutlich erklären können. Das sind immerhin etwa 1,5 x Grande Dixence oder 6 KKW Mühleberg (R.I.P.). Deutschland ist jetzt schon am Anschlag https://tinyurl.com/55hbt94s https://tinyurl.com/4untsbe7 Frankreichs alternder KK Park braucht viel Unterhalt, hat wenig Reserven, sicher keine Sympathie für die Schweiz, wenn überall notabgeschaltet werden muss, damit das Netz nicht zusammenbricht.

    Wir sind nicht vorbereitet. Covid Mangel an Schutzausrüstung, Impfstoff ist eine Lappalie dagegen. Der Bund selber sagt es „Strommangellage : Das grösste Risiko“ https://tinyurl.com/yyrw3u2r

    Und was macht die Politik, das UVEK, die Kommissionen? Warten auf den Elektro Godot?

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