Vom Autolagerhaus zum Gewächshaus
Ab diesem Herbst steht in Belgien ein Gewächshaus in Form einer Holzkuppel. So weit, so gut. Das Besondere daran? Die verwendeten Holzbalken dienten ursprünglich nicht dem Pflanzenwachstum, sondern schützten Autos vor dem Wetter. Denn sie stammen aus einem Autolagerhaus, das abgerissen wird. Die Forschungsgruppe des Circular Engineering for Architecture Lab der ETH Zürich machte dies möglich und zeigt in diesem Projekt, wie gut vermeintliche Abfälle, Digitalisierung und Klimaschutz zueinanderpassen.
Aber von Anfang an: Der Bausektor ist für 39 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Betriebsemissionen von Gebäuden konnten etwa durch die Produktion von eigenem Strom, die Umstellung auf LED oder den Ersatz von fossilen Heizungen bereits beachtlich reduziert werden. Was bisher zu kurz kam: die grauen Emissionen: Man gewinnt Rohmaterialien und transportiert sie, um aus ihnen ein Gebäude zu bauen, es instand zu halten und anschliessend abzubrechen. Diese Prozesse sind nicht nur mit Blick auf das Klima, sondern auch für die Umwelt und die Gesellschaft relevant. Pro Jahr werden beispielsweise 40 Milliarden Tonnen Sand gefördert, weil Wüstensand zu fein für die Betonproduktion ist. Biodiversitätsverlust ist eine der Folgen. Zudem führt unser heutiges Verständnis von Bauen zu einem Abfallproblem: In Europa stammen 30 Prozent des Abfalls aus dem Bausektor. Der Grund? «Wir leben in einer linearen Ökonomie, in der wir Ressourcen extrahieren, daraus Baumaterialien herstellen und sie nutzen, um sie anschliessend zu entsorgen», so Catherine De Wolf. Sie ist Assistenzprofessorin am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich. Die Forschungsgruppe des Circular Engineering for Architecture Lab hat eine Kuppel aus wiederverwendetem Holz entwickelt und gebaut. Der Name der Forschungsgruppe ist Programm, wie De Wolf verdeutlicht: «Stattdessen wird ein Kreislaufmodell benötigt, in dem wir ausschliesslich erneuerbare Ressourcen einspeisen, unsere Gebäude so lang wie möglich verwenden, sie reparieren und die Baumaterialien wiederverwenden. Erst wenn es gar nicht mehr geht, sollten die Materialien recycelt werden.» Bei der Wiederverwendung wird das ganze Element, also zum Beispiel der gesamte Holzrahmen, der Stahlträger oder die Betonplatte, wiederverwendet. Dies spart im Vergleich zu Recycling mehr Energie und schont Ressourcen. Bei Letzterem wird der Abfall wieder in den Produktionszyklus zurückgeführt, indem die Komponenten in ihr Ausgangsmaterial zerlegt werden. Es kommt zu sogenanntem «Downcycling»: Konstruktionsstahl wird zu flüssigem Stahl eingeschmolzen, sodass er neu geformt werden kann. Holzelemente wie Fensterrahmen werden zu Spanplatten.
Aus Alt mach Neu
«Das ist schade, denn jemand hat sehr viel Energie und Arbeit eingesetzt, um genau dieses Bauteil zu erschaffen», ergänzt die Professorin und nennt damit neben dem Klimaschutz einen weiteren Grund, weshalb sich ihre Forschungsgruppe mit der Wiederverwendung beschäftigt. Die Baumaterialien für die Holzkuppel stammen aus einem alten Autolagerhaus, das im Kanton Genf stand. Im Oktober 2021 konnten die Forschenden die Altbauteile aus dem Gebäude entnehmen und nach Zürich bringen. Damit erfuhren sie am eigenen Leib, welche Schwierigkeiten ein solcher Secondhand-Bau mit sich bringt: Wie kann sichergestellt werden, dass das Ende von Gebäude A mit dem Baustart von Gebäude B zusammenfällt? Wie landen Baumaterialien am richtigen Ort? Im Falle der Forschungsgruppe lautete die Antwort: mit einem Van, um die sieben Meter langen Balken zu transportieren. Und wie lässt sich sicherstellen, dass alle Beteiligten die benötigten Informationen erhalten, damit Materialien weiterverwendet werden können?
Vom Kleinen ins Grosse
Diese Fragen lassen sich schon im Kleinen nur schwer beantworten, wie das Projekt zeigt: Einige Holzbalken, die für die Kuppel eingeplant waren, waren plötzlich unauffindbar. Vermutlich wurden sie, als sie aus Platzgründen vor der ETH-Werkstatt gelagert wurden, als Abfall entsorgt. Bauprojekte sind oft komplexe, facettenreiche Herausforderungen, an denen verschiedene Personen in separaten Fachsilos arbeiten. Wiederverwendung findet deshalb nur im kleinen Massstab statt. «Im Moment handelt es sich um eine hochspezialisierte Nische. Typischerweise handelt es sich um jemanden, die oder der Materialien ‹jagt›. Das heisst, die Person kontaktiert alle Personen in ihrem Netzwerk, um zu schauen, ob es Materialien gibt, die in neuen Projekten verwendet werden können», erklärt die Ingenieurin und Architektin. Es gebe zwar hochspezialisierte Geschäfte für Secondhand-Baumaterialien. Die derzeitige Praxis führt aber zu hohen Kosten, da die Dekonstruktion durch Fachpersonen durchgeführt und die Lagerung der Materialien bezahlt werden müsse. Im Grossen, über die gesamte Baubranche hinweg, wird die Herausforderung also ungleich komplexer. Die Kuppel dient somit als Labor, um zu testen, was notwendig ist, um auch im grossen Massstab kreislaufgerecht zu bauen:
- Daten, wann und wo Baumaterialien wiederverwendet werden können
- Methoden, um Informationen über die Baumaterialien sammeln zu können, bevor das Gebäude abgerissen wird
- Schnelles und intelligentes Demontieren und Sortieren von Baumaterialien
- Effizientes und transparentes Verteilen von Baumaterialien, indem sie identifizier-, nachverfolg- und handelbar gemacht werden
- Veränderung des Verständnisses von Gebäuden
Digitale Methoden
Die Anknüpfungspunkte für digitale Methoden sind zahlreich. Die Anwendung von Machine Learning auf Daten von Google Street View, Katasterdaten oder Fotos kann dabei helfen, mögliche Baumaterialien vorherzusagen, um zu wissen, wann und wo Baumaterialien wiederverwendet werden können. Beim konkreten Gebäude kann mit LiDAR-Scannern – ein Verfahren, um mittels Laser einen 3D-Scan einer Umgebung zu erstellen – und Visualisierungen am Computer bereits vor dem Abriss ein Inventar erstellt werden. Mit intelligenten Robotern kann die Sortierung automatisiert werden und schliesslich erhält jedes Bauteil eine Identität, wodurch es in Datenbanken auffindbar ist. Was nach Zukunftsmusik klingt, ist schon Alltag für die Forschungsgruppe. Auch weitere Aspekte der digitalen Fabrikation werden an der ETH Zürich bereits erforscht.
Brandon Byers, Doktorand in der Gruppe, hat eine Onlineplattform für die Bauteile der Kuppel erstellt. Jedes Element, das von Genf nach Zürich gebracht wurde, besitzt einen QR-Code, der auf einen Eintrag auf der Onlineplattform verweist. So wird jede Holzleiste unverwechselbar. Für das grosse Ganze bedeutet dies, dass jeder sehen kann, wann welche Materialien aus Abrissobjekten verfügbar sind. Das Installationsdatum, die Dimensionen und Qualitätsangaben können gespeichert und aktualisiert werden. Dies ist nicht nur für Architektinnen und Architekten interessant: «Wenn die Informationen zu verbauten Bauteilen frei zugänglich sind, ermöglicht dies auch, mehr über die Geschichte eines Gebäudes zu erfahren», so der Doktorand.
Flexible Planung
Wie wichtig das Sammeln der Information ist, zeigt sich bereits im Kleinen an der Kuppel. Ursprünglich waren Plastikrohre aus Genf, eigentlich Wasserrohre, als Verbindungen zwischen den Holzbalken vorgesehen. Allerdings verzogen sich die Rohre, deren Eigenschaften nicht bekannt waren, unter der Spannung in der Kuppel mehr als erwartet. Die Lösung sind runde, mit einer vom Computer gesteuerten Maschine passend gefräste Scheiben aus Spanplatten – ebenfalls aus Genf –, die in die Plastikringe eingelassen wurden. «Die Kuppel ist dadurch nicht nur stabiler, sondern gewinnt auch noch an Ästhetik», so Deepika Raghu, die diesen Teil des Projekts umgesetzt hat. Bei der Verwendung von Secondhand-Materialien ist also Kreativität gefordert: «Ein Gebäude aus wiederverwendeten Materialien zu erstellen, benötigt selbstverständlich ein höheres Mass an Kreativität. Ein Designer muss flexibler sein und das Design an die verfügbaren Materialien anpassen. Der gesamte Designprozess muss überdacht werden. Gleichzeitig muss aber auch das unflexible Baurecht in Angriff genommen werden», so die Forscherin aus Belgien.
Auch die Kuppelform ist nicht dem Zufall überlassen, sondern dem Computer entsprungen. Die Kuppel als Grundstruktur mit Dreiecken ist seit jeher als raum- und energieeffizient sowie stabil bekannt. Der Doktorand Matthew Gordon hat für die Planung einen Algorithmus programmiert: «Ziel war, das Computerprogramm so zu konzipieren, dass es nicht die grössten Balken in kleine Stücke verschneidet und möglichst wenig Abfall übrigbleibt.» Anhand des Holzvorrats errechnete es die optimale Geometrie und Grösse des Baus. Das Material wird dadurch möglichst effizient genutzt.
Von der Theorie in die Praxis
Bisher ist es einfacher, solche Ansätze in kleineren Gebäuden für nichttragende Elemente zu verwenden. Forschende wie diejenige des Circular Engineering for Architecture Lab arbeiten aber an grossflächigen Anwendungen, eben etwa durch die Entwicklung von digitalen Methoden. Denn grundsätzlich kann jedes Element weiterverwendet werden, das auseinandernehmen lässt, nicht giftig und in gutem Zustand ist. Die Zerlegbarkeit kann durch trockene Verbindungen erhöht werden, geschraubte Elemente lassen sich wesentlich besser wiederverwenden als geschweisste. Nicht zuletzt ist aber der Designgedanke entscheidend: «Wenn Designer ein Gebäude mit einer ‹End of Life›-Strategie planen, kann sehr viel mehr Material kreislaufgerecht wiederverwendet werden, als wenn Gebäude gewissermassen als Einwegplastik betrachtet werden», konstatiert De Wolf. Hierfür wird eine App benötigt, die Baumaterialien, Gebäude und Personen basierend auf dem Preis, dem Ort und weiteren Parametern zusammenbringt: «Digitale Tools werden in anderen Sektoren bereits effektiv umgesetzt. Wir müssen Algorithmen entwickeln, die an den Bausektor angepasst sind, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. So können Besitzende, Nutzende, Designer, Zuliefererbetriebe und Arbeitende über die ganze Wertschöpfungskette hinweg zusammenwirken.»
Und die Holzkuppel? Diese führt dank ihrer Modularität – wie ihre Bauteile – mehrere Leben. Nach ihrem Bau in Zürich wurde sie nach Belgien transportiert, wo sie dank der Regierungsinitiative Vlaanderen Circulair zuerst als TV- und Radiostation in Gent stand. Anschliessend diente sie den Sommer u?ber als Sitzungszimmer vor dem Rathaus von Oostende. Ab Herbst erhält sie ein weiteres Leben als Gewächshaus.
Julia Gremminger, Redaktorin für die Geschäftsstelle Vorbild Energie und Klima
Quelle Bilder: Circular Engineering for Architecture Lab
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