Sozial- und Geisteswissenschaftler müssen sich aktiv in die Energieforschung einbringen
Die nachhaltige Entwicklung gehört zu den Kernaufgaben der Gesellschaft. Das Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich leistet hier einen Beitrag, in dem es zukünftige Fach- und Führungskräfte für eine Welt ausbildet, die auch für spätere Generationen lebenswert ist. Warum dabei ein integrativer Ansatz mit unterschiedlichen disziplinären Perspektiven insbesondere im Hinblick auf die Transition unseres Energiesystems wichtig ist, erklärt der Soziologe Prof. Michael Stauffacher im Interview.
Energeiaplus: Sie arbeiten oft im Verbund mit anderen Forschenden, häufig kommen diese aus naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen. Wie kommt es zu diesen Kooperationen?
Michael Stauffacher: Ich war schon im Studium und später in meinen wissenschaftlichen Arbeiten immer an aktuellen gesellschaftlich relevanten Problemen interessiert. Dies sind meist sogenannte „wicked problems“, Probleme die kaum zu lösen sind beziehungsweise keine einfachen Lösungen haben. Beispiele während meines Studiums waren das Drogenproblem oder das Waldsterben, heute aktuell sind insbesondere der Klimawandel, die Energiewende oder die Corona-Pandemie.
Solche Probleme können auf ganz unterschiedliche Arten definiert werden. Die Definitionen implizieren aber jeweils auch gleich eine Lösung. Dies hat auch Folgen für die wissenschaftliche Bearbeitung solcher Probleme: sie können nicht von einer Disziplin alleine vorgenommen werden. Und auch nicht von der Wissenschaft alleine, sondern nur im Verbund mit anderen gesellschaftlichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Kurz: die Kooperation ergibt sich aus der inhaltlichen Herausforderung und natürlich auch aus dem Umstand, dass ich an der ETH arbeite und somit in engem Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen aus naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen stehe.
Was ist bei solchen Kooperationen besonders zu beachten? Wo liegen die Herausforderungen?
Alles beginnt am Anfang. Wer initiiert das Projekt, wer ist zu Beginn schon dabei, oder wer kommt erst später dazu. Je nachdem ergeben sich ganz unterschiedliche Herausforderungen. Erfolgreiche Kooperation beginnt mit einem gemeinsam erarbeiteten Problemverständnis, was auch erfordert, sich kennen zu lernen, Vertrauen und wechselseitiges Verständnis aufzubauen. All dies braucht Zeit, die aber oft fehlt, weil alle von uns parallel in vielen Forschungsprojekten, aber auch in der Lehre und verschiedenen Dienstleistungsaufgaben engagiert sind.
Deutlich schwieriger wird es, wenn ein Teil des Projektteams erst später dazu stösst, vielleicht sogar von anderen formulierte Problem- und Fragestellungen übernehmen muss. Es entsteht so ein Machtgefälle. Wechselseitige Missverständnisse und enttäuschte Erwartungen sind oft die Folge.
Können Sie uns ein Beispiel einer erfolgreichen Zusammenarbeit anhand eines konkreten Projekts geben?
Konkret habe ich dies sowohl im Bereich der Flussrenaturierung, der Tiefengeothermie und der Arealtransformation in Städten erlebt. In der Tiefengeothermie haben Prof. Stefan Wiemer, Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes und Professor für Seismologie, und ich gemeinsam mit Studierenden das Geothermieprojekt in St.Gallen untersucht. Analysiert wurden die Kommunikation der Projektleitung, die Berichterstattung in den Medien und die Wahrnehmung der Bevölkerung.
Daraus ergaben sich vielfältige Einblicke in Erfolgsfaktoren für zukünftige Geothermieprojekte. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden danach weitere Kooperationsprojekte, unter anderem im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP „Energie“, des Schweizer Kompetenzzentrums für Energieforschung – Stromversorgung (SCCER-SoE) und aktuell im Rahmen der EU-Projekts RISE «Real-time earthquake risk reduction for a resilient Europe», wo Frühwarnsysteme für Erdbeben entwickelt und die Kommunikation bei Warnungen verbessert werden.
Warum sind inter- und transdisziplinäre Projekte gerade im Bereich der Energieforschung so wichtig?
Für mich stellt die Energieforschung ein Beispiel von vielen Problemen dar, wo inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig bzw. unabdingbar ist. Gemeinsam ist diesen Problemen insbesondere, dass sie sich mit der Zukunft beschäftigen und eine hohe Komplexität aufweisen. Damit einher gehen grosse, auch wissenschaftliche Unsicherheiten sowie widersprüchliche Wahrnehmungen, Werthaltungen, Interessen und Zielvorstellungen.
Es müssen unterschiedliche Perspektiven, Methoden, Theorien und Konzepte zur Bearbeitung herangezogen und in einen Austausch gebracht werden. Das heisst, es braucht verschiedene disziplinäre Zugänge, aber auch das Zusammenführen dieses wissenschaftlichen Wissens mit den Erfahrungen und der Expertise der Praxis und der Gesellschaft.
Welche Tipps haben Sie für Forschungskolleginnen und –kollegen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, die gerne Energiethemen in grösseren Verbünden bearbeiten möchten?
An unterschiedlichen Anlässen zu Energiethemen teilnehmen, organisiert von der Wissenschaft oder der Praxis, zuhören und sich herantasten an die Denkweise und Problemsichten der technisch-naturwissenschaftlichen Energiefachleute und Anknüpfungspunkte für die eigene Expertise suchen und ansprechen. Wichtig ist, nicht zurück zu schrecken vor manchmal eher instrumentellen Erwartungen an die Sozialwissenschaften, sondern dies als Ausgangslage zu nehmen, um im Gespräch auch weitere und stärker im eigenen Forschungsbereich liegende Fragestellungen und Ideen anzusprechen.
Ein wichtiges Instrument sind sicher auch die gemeinsam von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und dem Bundesamt für Energie (BFE) organisierten Anlässe, um die Sozial- und Geisteswissenschaften an die aktuelle Energieforschung heranzuführen.
Wie müssten aus Ihrer Sicht Förderinstrumente gestaltet sein, um die Sozial- und Geisteswissenschaften besser miteinzubeziehen?
Es geht nicht nur um die Gestaltung der Förderinstrumente selber, sondern insbesondere auch um deren Umfeld, deren Kommunikation. Das BFE hat mit SWEET schon wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. Gerade die Ausschreibung im Frühjahr 2021 «Arbeiten und Wohnen» hat schon mit ihrer Begriffswahl deutlich besser die Sozial- und Geisteswissenschaften angesprochen. Auch die gemeinsamen Anlässe von SAGW und BFE zu SWEET können helfen, Brücken zu schlagen.
Ich hoffe natürlich wie die Politikwissenschaftlerin Isabelle Stadelmann auch darauf, dass es noch Ausschreibungen geben wird, wo die Sozialwissenschaften beziehungsweise insbesondere die Geisteswissenschaften, die noch viel weniger in der Energieforschung der Schweiz sichtbar sind, im Mittelpunkt stehen. Natürlich auch in Zusammenarbeit mit den technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen, aber mal in umgedrehter Startposition.
In einer Interview-Serie wird das Thema der Sozial- und Geisteswissenschaften in der Energieforschung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Lesen Sie auch die ersten beiden Interviews:
Interview: Andrea Leu, Senarclens Leu und Partner im Auftrag des Bundesamt für Energie
„Solche Probleme können auf ganz unterschiedliche Arten definiert werden. Die Definitionen implizieren aber jeweils auch gleich eine Lösung. “
Damit war für mich die Lektüre abgeschlossen. Das hat mit ergebnisoffener Wissenschaft nichts zu tun.
Lieber Markus
Die nächsten beiden Sätze lohnen sich zu lesen:
«Dies hat auch Folgen für die wissenschaftliche Bearbeitung solcher Probleme: sie können nicht von einer Disziplin alleine vorgenommen werden. Und auch nicht von der Wissenschaft alleine, sondern nur im Verbund mit anderen gesellschaftlichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.»
Ich wüsste gar nicht, wie transdisziplinäre Forschung funktionieren könnte, wenn sich nicht ergebnisoffen ist…
Liebe Grüsse
Lisa
Schon gut. Einverstanden. Aber wie wäre es zunächst mal die Ingenieure einzubinden?
Warum soll man vermehrt auf die Sozial- und Geisteswissenschaftler hören, wenn man die wachsenden kritischen Stimmen der Naturwissenschaftler und Ingenieure ignoriert oder in den Wind schlägt ? Wer die Diskussionsrunde am Fernsehen SRF zum Thema „Langfristige Sicherheit der Stromversorgung“ gesehen hat muss eigentlich zum Schluss gekommen sein, dass die Teilnehmer der Runde nur hilflose und längst bekannte Antworten gegeben haben. Man drehte sich wie gewohnt im Kreis. Die „ES 2050“ befindet sich in einer behördlich verordneten Sackgasse, aus der man nicht mehr heraus findet. Ein Befreiungsschlag wäre fällig. Die Schweiz läuft sonst in Gefahr einmal in ein wirtschaftliches Debakel zu geraten.