20 Jahre schweizerisches Energiegesetz – Teil 4
Vor 20 Jahren, am 1. Januar 1999, ist das erste Schweizer Energiegesetz in Kraft getreten. Seine Entstehungsgeschichte ist einzigartig. Grund genug, in einer fünfteiligen Blogserie auf ein spannendes Stück Schweizer Politikgeschichte zurückzublicken. In Teil 4 unserer Serie geht es um den zweiten Anlauf zu einem Energieartikel und um den Energienutzungsbeschluss.
Teil 4: Zweiter Anlauf Energieartikel und Energienutzungsbeschluss
Nach der knappen Ablehnung des Energieartikels 1983 hatte der Bundesrat in Zusammenarbeit mit den Kantonen ein energiepolitisches «Ersatzprogramm» definiert und im März 1985 verabschiedet. Er gab den Kantonen bis Mitte 1986 Zeit, die nötigen Massnahmen aufzugleisen. Mitten in dieser Umsetzungsphase ereignete sich im April 1986 das Reaktorunglück in Tschernobyl und stellte den gesamten Diskurs über eine nationale Energiepolitik auf den Kopf.
Kantone wollen eine nationale Energiepolitik
So zog die Energiedirektorenkonferenz im August 1986 zwar eine positive Bilanz zu den Fortschritten bei der Umsetzung des energiepolitischen Programms. Inzwischen gab es in 20 Kantonen gesetzliche Grundlagen für das Energiesparen in Gebäuden. Der eigentliche Vollzug der Massnahmen stand aber in vielen Kantonen erst am Anfang. So waren sich die kantonalen Energiedirektoren – auch unter dem Eindruck von Tschernobyl – einig, dass für eine umfassende und ausgewogene Energiepolitik ein Energieartikel in der Verfassung unabdingbar sei.
Bundesrat schlägt neuen Energieartikel mit Energieabgabe vor
In seinen Stellungnahmen zu den Vorstössen der ausserordentlichen Tschernobyl-Session des Parlaments im Oktober 1986 stellte der Bundesrat denn auch in Aussicht, möglichst rasch eine Botschaft für einen Energieartikel vorzulegen. Der Bundesrat hielt Wort und schickte im Februar 1987 den folgenden Entwurf in die Vernehmlassung:
- Bund und Kantone treffen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die erforderlichen Massnahmen für eine ausreichende und sichere wirtschaftliche und umweltschonende Energieversorgung sowie für eine sparsame und rationelle Energieverwendung.
- Der Bund kann:
- Grundsätze aufstellen für die Nutzung einheimischer und erneuerbarer Energien sowie für die Abgabe und Verwendung von Energie;
- Vorschriften erlassen über den Energieverbrauch von Anlagen, Fahrzeugen und Geräten
- die Entwicklung von Energietechniken fördern;
- eine Energieabgabe erheben.
- Der Bund berücksichtigt in seiner Energiepolitik die Anstrengungen der Kantone und ihrer Gemeinwesen sowie der Wirtschaft. Massnahmen nur Nutzung von Energie in Gebäuden werden vor allem von den Kantonen getroffen.
Vernehmlassung zeigt weiterhin starke Polarisierung
Wie schon beim ersten Anlauf, zeigte die Vernehmlassung wiederum die starke Polarisierung in der Energiepolitik auf: Drei Viertel der Vernehmlasser befürworteten zwar grundsätzlich einen Energieartikel in der Bundesverfassung. Bezüglich der Erhebung einer Energieabgabe und den Erlass von Grundsätzen über die Abgabe und Verwendung von Energie gingen die Meinungen aber stark auseinander und schufen eine Pattsituation. 60 Stellungnahmen waren grundsätzlich für eine Energieabgabe, 60 lehnten eine Abgabe ab, 6 wollten sich noch nicht festlegen. Viele sprachen sich auch gegen Bundesgrundsätze über die Abgabe und Verwendung von Energie aus: Der Bund solle nicht in das Verhältnis zwischen Energieprozent, Lieferant und Konsument und in die Tarifhoheit der Energieversorgungsunternehmen eingreifen können.
Bundesrat krebst zurück: Botschaft sieht keine Energieabgabe mehr vor
Im Dezember 1987 verabschiedete der Bundesrat schliesslich die Botschaft über einen Energieartikel in der Bundesverfassung. Die Energieabgabe war verschwunden und auch die kann-Formulierung in Absatz zwei:
- Bund und Kantone schaffen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Voraussetzungen für eine ausreichende und sichere, wirtschaftliche und umweltschonende Energieversorgung sowie für eine sparsame und rationelle Energieverwendung.
- Der Bund erlässt Grundsätze für
- die Nutzung einheimischer und erneuerbarer Energien;
- die Abgabe und Verwendung von Energie.
- Der Bund
- erlässt Vorschriften über den Energieverbrauch von Anlagen, Fahrzeugen und Geräten;
- fördert die Entwicklung von Energietechniken,
- Der Bund berücksichtigt in seiner Energiepolitik die Anstrengungen der Kantone und ihrer Gemeinwesen sowie der Wirtschaft. Massnahmen zur Nutzung von Energie in Gebäuden werden vor allem von den Kantonen getroffen.
Unveränderte Fronten im Parlament
Die parlamentarische Debatte (Verhandlungsheft zur Debatte) zeigte, dass man in grundsätzlichen Fragen, die zum Scheitern des Energieartikels im Jahr 1983 beigetragen hatten, nicht wirklich weitergekommen war. Auf der einen Seite wurde immer noch mit «zuviel Staat» auf der anderen Seite mit «zu schwache Grundlage» argumentiert. In der Eintretensdebatte im September 1988 stellte Nationalrat und Berichterstatter Kurt Schüle fest: «Unsere Kommission hat den Energieartikel an drei Sitzungen während fünf Tagen beraten. Mit 19 zu 4 Stimmen wurde Eintreten beschlossen. In der Schlussabstimmung lautete das Resultat 12 zu 3 Stimmen bei 4 Enthaltungen. Die Gegenstimmen stammten von Kommissionsmitgliedern, denen der vorliegende Energieartikel zu weit geht oder die grundsätzlich gegen neue Bundeskompetenzen auf diesem Gebiete sind. Die vier Stimmenthaltungen wiederum stammten von Kommissionsmitgliedern, denen der Energieartikel zu wenig weit geht, vor allem, weil er nach dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit keine Energieabgabe enthält.»
Wir blockieren uns alle gegenseitig
Nationalrat Elmar Ledergerber analysierte: «Die Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die verschiedenen Lager blockieren können; aber keines der Lager in der Lage ist zu handeln. Weder können die «Nuklearen» ihr Programm durchziehen, noch können die Aussteiger aussteigen, noch können die Sparer sparen oder jene, die die Nutzung verbessern wollen, diese wirklich verbessern. Wir blockieren uns alle gegenseitig.» Gleichzeitig machte er seine Frontlinie klar: «Dieser Verfassungsartikel … wurde nämlich nicht geboren aus dem Willen, Energiepolitik damit zu betreiben, sondern um Energiepolitik zu verhindern. … Die Energiedirektoren sind aufgesessen und haben gesagt: Ja, wir wollen jetzt einen neuen Anlauf mit dem Bundesverfassungsartikel machen, wohl wissend, dass bis zum Inkrafttreten des Verfassungsartikels vier, fünf Jahre verstreichen und die anschliessende Gesetzgebung nochmals so viele Jahre in Anspruch nehmen wird …»
Abhängigkeit von Entwicklungen im Ausland
Die Notwendigkeit eines Energieartikels begründete Nationalrat Schüle mit der Abhängigkeit von Entwicklungen im Ausland: «Wozu brauchen wir diese verstärkte Energiepolitik? Die internationale Energiesituation wurde in den letzten Jahren durch den nachhaltigen Preiszerfall des Erdöls und auch durch das Reaktorunglück in Tschernobyl geprägt. Diese Ereignisse haben einmal mehr die grossen Einflüsse ausländischer Entwicklung auf unser Land gezeigt. Die Auslandabhängigkeit unserer Energieversorgung ist mit einem Anteil von rund 85 Prozent nach wie vor zu hoch. Zur Auslandabhängigkeit kommt die Schadstoffbelastung der Luft durch die Verbrennung fossiler Brenn- und Treibstoffe.» Diese Situation verlange dringend nach politischen Entscheiden und Weichenstellungen für die Zukunft. Und dazu seien ein Energieartikel und ein Energiegesetz notwendig. Der Energieartikel solle vor allem eine optimale Aufgabenteilung im Energiewesen nach föderalistischen Grundsätzen festlegen und von den beiden zentralen Grundsätzen geleitet sein, dass Energie sparsam und rationell verwendet werden müsse und die einheimischen und erneuerbaren Energien verstärkt zu nutzen seien.
Blocher’s Vision: Die Trouvaille der Debatte
Nationalrat Christoph Blocher wollte gar nicht auf den Energieartikel eintreten, weil dieser Ausdruck einer ziel- und orientierungslosen Energiepolitik sei: «Glauben Sie, ich stimmte einer falschen Politik zu, nur, weil man glaubt, das Volk wolle jetzt sparen? Das wollen wir dann sehen. Aber das kann ich Ihnen sagen: Wenn alle sparen würden, die sagen, man sollte sparen, bräuchte niemand mehr zu sparen, weil schon alle sparen.» Und er zeichnete in seiner Rede ein aus heutiger Sicht geradezu visionäres Zukunftsbild: «Haben wir denn eigentlich vergessen, dass es auf der Erde
grundsätzlich und für alle Zeiten genügend Energie gibt? Wir haben es vergessen. Die Sonne allein führt ständig etwa zehntausendmal mehr Energie zu, als wir verbrauchen. Wir stehen heute ganz unten, ganz am Anfang in der Nutzung der Energie. Wir haben ganz wenig Dinge genutzt, so das Öl, das Erdgas, die Elektrizität, das Uran, das Wasser, das Holz. … Alle anderen Möglichkeiten stehen der Menschheit noch offen. … Haben Sie vergessen, dass die heutige Energieversorgung weitgehend aus nur in beschränktem Ausmass zur Verfügung stehenden Ressourcen besteht? Also müssen wir doch darangehen, den Rest sinnvoll zu nutzen. Wir haben noch grosse Probleme zu lösen: Im Gebiet der Energiespeicherung, im Gebiet der überschüssigen Energie, d. h. wir müssen lernen, die Energie, die wir heute nicht brauchen können, in Zeiten zu nutzen, in denen wir sie brauchen können. Das sind doch die Dimensionen!»
Nationalrat Paul Günter liess es sich nicht nehmen, auf diese Aussagen zu reagieren: «Also ich sage Ihnen: Christoph Blocher SVP in der Rolle des «Alt-Hippies», der den solaren Freistaat entdeckt, das war eine echte «trouvaille», quasi ein Höhepunkt unserer Debatte! Wir freuen uns natürlich, dass er langsam begreift, wie schön, wie aussichtsreich der auf Sonnenenergie basierende freiheitliche Staat sein könnte, der Fortschritt bringt, die Umwelt schont, und das alles mit der Erfüllung des einzelnen in einem grösseren Ausmass als heute.» Nationalrätin Monika Stocker doppelte nach: «Wir kennen auch die Taktik jener, die nicht müde werden, immer wieder zu beschwören, dass … überhaupt nur der Gedanke ans Sparen … allein schon den Untergang der Schweiz bedeuten würde. … Es ist nämlich müssig, immer wieder von der warmen Dusche, die dann abgestellt wird, und von der armen Frau, die die Wäsche wieder von Hand waschen muss, zu erzählen; das ist langsam peinlich.»
Und Nationalrat Franz Jaeger zeigte sich erstaunt über die Umkehrung der Argumentation: «Ich erinnere mich jetzt an jahrelange Debatten; da hat es immer geheissen: Wenn auf Kaiseraugst verzichtet werden muss, müssen die Lichter ausgelöscht werden, denn wir haben zu wenig Energie. Plötzlich wird die Argumentation umgekehrt. Jetzt, wo man von rationeller Energieverwendung und -produktion spricht, kommt das Argument: Das ist alles nicht nötig, wir haben ja genügend Energie.»
Der Markt allein kann es nicht richten
Wie schon in der Debatte zum ersten Energieartikel, wurde immer wieder vorgebracht, dass die Marktkräfte im Energiebereich alles zum Besten wenden würden. So liess beispielsweise Michael Dreher verlauten, dass die Schweizer Energiewirtschaft ihre Aufgaben doch sehr gut erledige: «Noch nie war das Benzin so günstig, gemessen an der Kaufkraft; der Strom ist billig. Ich weiss gar nicht, was Sie mit diesem Energieartikel wollen. Ich kann es wirklich nicht verstehen.»
Diesen Markt-Argumenten hielt Franz Jaeger entgegen, dass es durchaus mehr Wettbewerb brauche und Bund und Kantone die Möglichkeit hätten, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen: «Denken Sie doch daran, dass gerade im Bereich der Elektrizitätswirtschaft diese Wettbewerbsstrukturen fehlen. Es werden dort immer noch keine Energieleistungen angeboten, sondern es wird immer noch versucht, möglichst viel Strom an möglichst viele Leute mit grösstmöglichem Gewinn abzugeben.»
Wer ständig nein zu allen Projekten sagt, der muss ja schliesslich importieren
Bundesrat Adolf Ogi, der 1988 als vierter Bundesrat die Verantwortung über das Dossier Energie übernommen hatte, konterte die Anwürfe einer ziellosen Energiepolitik vehement: «Wir haben eine Energiepolitik. Lassen Sie uns diese nur umsetzen! Aber um dies alles realisieren zu können, brauchen wir eben gesetzliche Massnahmen, das heisst den Energieartikel, dann das Energiegesetz und den vorgezogenen Nutzungsbeschluss.»
Weiter skizzierte Ogi die weiteren Pläne des Bundesrats: «Der Bundesrat will in erster Priorität den Energieartikel, die Volksabstimmung und dann das Energiegesetz. Der Bundesrat prüft bis Herbst 1988 als Übergangslösung einen vorgezogenen Sparbeschluss bzw. einen Nutzungsbeschluss. Der Bundesrat will in zweiter Priorität die Totalrevision des Atomgesetzes, das dann zum Kernenergiegesetz wird. Der Bundesrat will die Sicherstellung der Energieversorgung, die Option Kernenergie, das heisst die Offenhaltung dieser Möglichkeiten. Und der Bundesrat will die Sicherstellung der Entsorgung. … Der Bundesrat will auch freiwillige Massnahmen fördern: mit einer Energiekampagne, genannt «Bravo» ….Der Bundesrat will bessere Informationen und Ausbildung. Dazu fördert der Bundesrat die technische und wirtschaftliche Entwicklung sowie die Forschung, zum Beispiel Pilotanlagen. Der Bundesrat will die Alternativenergien vermehrt fördern. Aber wie bisher müssen wir versuchen, soviel wie möglich in der Schweiz zu produzieren. Zum Beispiel wollen wir in der Stromproduktion eine 95-prozentige Versorgungssicherheit. … Ein wesentlicher Ausbau der Stromproduktion ist politisch kaum mehr möglich. Ich erwähne die 350 Einsprachen beim Regierungsstatthalter in Meiringen, die das Projekt Grimsel betreffen. … Nun ein Wort zu den Importen: Wer behauptet, der Bundesrat wolle auf teuren Atomstrom aus dem Ausland ausweichen, der täuscht sich. Wir wollen so wenig wie möglich importieren. Diesen Import aber gesetzlich zu verbieten oder einzuschränken, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn wer ständig mehr verbraucht und nein zu allen Projekten sagt, der muss ja schliesslich importieren.»
Einschub: Die von Bundesrat Adolf Ogi angekündigte Energiesparkampagne Bravo! wurde vom Bund als Nachfolge zur Kampagne «Denk mit-Spar mit» 1988 lanciert und lief bis 1994: Unvergessen sind die Bilder des eierkochenden Bundesrat Adolf Ogi, siehe dazu auch Tagesschau vom 24. Oktober 1988.
1991, nach Annahme des Energieartikels und des Energienutzungsbeschlusses startet der Bundesrat das Aktionsprogramm Energie 2000, das der Bevölkerung Ratschläge zum Energiesparen und zu erneuerbaren Energien vermitteln sollte.
Im Jahr 2000 wurde Energie 2000 umgetauft in EnergieSchweiz, das heute noch existiert und nach dem Willen des Bundesrats auch im kommenden Jahrzehnt weitergeführt wird. EnergieSchweiz hatte zu seinem Start das gleiche Budget zur Verfügung wie zuvor Energie 2000, trotz neuer Aufgaben im Energiegesetz.
Energiebesteuerung ausklammern
Die Idee des Bundesrates, die Frage der Energiebesteuerung nicht im Rahmen des Energieartikels, sondern im Rahmen der Bundesfinanzordnung (siehe Teil 2 der Blogserie) zu prüfen, wurde weitgehend akzeptiert. «Durch die Ausklammerung der Energiebesteuerung aus dieser Vorlage ist Gewähr geboten, dass der Verfassungsartikel nicht deswegen falliert.», fasste Nationalrat Schüle die Überlegungen zusammen.
Das Matterhorn der Vorlage
Als umstrittenster Punkt der Vorlage erwies sich Absatz 2, Buchstabe b: «Der Bundesrat erlässt Grundsätze für die Abgabe und Verwendung von Energie.» Es gab dazu, so Berichterstatter Schüle, «eine verwirrliche Anzahl von Minderheitsanträgen …, die sich zum Teil auch materiell in die Quere kommen, obwohl sie von den gleichen Leuten stammen.»
Bundesrat Ogi bezeichnete diesen Absatz denn auch als «das Matterhorn dieser Vorlage». Er erklärte, dass diese Bestimmung vor allem eine Bundeskompetenz zur Grundsatzgesetzgebung über das Energiesparen sei. Darauf aufbauend könnten die von Bund und Kantonen vereinbarten Massnahmen für eine rationelle Energieverwendung in Gebäuden gesamtschweizerisch verwirklicht werden. Mit Mindestvorschriften würden jene Kantone zum Handeln angehalten, welche solche Massnahmen noch nicht eingeführt haben. Weiter gehe es bei diesem Absatz darum, energie- und umweltpolitisch fragwürdige Tarifstrukturen zu korrigieren. Der Bundesrat, so Ogi, wehre sich entschieden gegen die Streichung des Absatzes 2 Buchstabe b: «Das sollten wir jetzt, vor dem Mittagessen, wirklich nicht tun.».
Letztlich setzten sich aber die Gegner mit ihren Argumenten durch, dass diese Bestimmung ein wesentlicher Eingriff in die Tarifhoheit der Kantone darstelle, und gemäss Nationalrat Karl Weber «eine klassische Strafexpedition gegen die Standortkantone und Energieproduktionsanlagen, gegen jene Standortkantone, die bis heute unserem Land die Versorgungssicherheit garantiert haben» sei.
Folgender Artikel wurde schliesslich in der Schlussabstimmung Anfang Oktober 1989 verabschiedet, das «Matterhorn» war verschwunden:
Art. 24octies
- Bund und Kantone setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, breitgefächerte und sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung sowie für einen sparsamen und rationellen Energieverbrauch ein.
- Der Bund erlässt Grundsätze für:
- die Nutzung einheimischer und erneuerbarer Energien;
- den sparsamen und rationellen Energieverbrauch.
- Der Bund:
- erlässt Vorschriften über den Energieverbrauch von Anlagen, Fahrzeugen und Geräten;
- fördert die Entwicklung von Energietechniken, insbesondere im Bereich des Energiesparens und der erneuerbaren Energien.
- Der Bund berücksichtigt in seiner Energiepolitik die Anstrengungen der Kantone und ihrer Gemeinwesen sowie der Wirtschaft. Den unterschiedlichen Verhältnissen der einzelnen Gebiete des Landes und der wirtschaftlichen Tragbarkeit ist Rechnung zu tragen. Massnahmen betreffend den Verbrauch von Energie in Gebäuden werden vor allem von den Kantonen getroffen.
71% Ja zum Energieartikel
Wie schon beim ersten Anlauf 1983, wurde auch diese Abstimmungskampagne mit harten Bandagen geführt. In der Tagesschau vom 15.09.1990 wehrte sich Nationalrat Karl Weber gegen die zusätzlichen Kompetenzen, welche der Energieartikel der «Zentralgewalt» bringen würde. Ausserdem zeigte er sich über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Energiesparens besorgt: «Ich bin der Meinung, dass Energiesparen Rücksicht zu nehmen habe gegenüber jenen Standortkantonen von Kraftwerken, die bis heute die Eigenversorgung unseres Landes gewährleistet haben.»
Der Energieartikel wurde am 23. September 1990 mit 71% Ja-Stimmen angenommen, alle Stände stimmten zu. Damit erhielt die Energiepolitik erstmals eine verfassungsmässige Grundlage: Ein Meilenstein. Reaktionen zum Abstimmungsergebnis zeigte die Tagesschau vom 23.09.1990. Am gleichen Tag wurde eine weitere Atomausstiegsinitiative mit 52.9% abgelehnt, die Moratoriumsinitiative, die einen 10-jährigen Bewilligungsstop für neue Kernkraftwerke verlangte, aber mit 54% angenommen (Abstimmungsbüchlein).
Der Energienutzungsbeschluss: Vorläufer des Energiegesetzes
Noch während der laufenden parlamentarischen Debatte zum Energieartikel legte der Bundesrat im Dezember 1988 die Botschaft betreffend den Bundesbeschluss über eine sparsame und rationelle Energieverwendung vor. Es handelte sich dabei um das von Bundesrat Leon Schlumpf bereits 1984 als Teil des energiepolitischen «Multipacks» in Aussicht gestellte Elektrizitäts-Spargesetz. Damals gestand man dem Bundesrat nur zu, ein solches Gesetz prüfen zu dürfen. Doch die Ausgangslage hatte sich seither durch Tschernobyl und den 1988 vom Parlament beschlossenen Verzicht auf die Kernkraftwerke Kaiseraugst und Graben (siehe Teil 3 der Blogserie) verändert. Der Bundesrat hatte bei diesem Entscheid klargemacht, dass er dem Verzicht auf neue Kernkraftwerke nur unter der Voraussetzung einer aktiven Sparpolitik zustimmen könne. Der Energienutzungsbeschluss wurde als Vorläufer des noch zu erarbeitenden Energiegesetzes konzipiert und sollte von diesem spätestens am 31. Dezember 1998 abgelöst werden. Die Tagesschau vom 04.12.1990 thematisiert die Debatte zum Energienutzungsbeschluss.
Der Energienutzungsbeschluss wurde Mitte Dezember 1990 vom Parlament verabschiedet und unmittelbar nach der erfolgreichen Abstimmung zum Energieartikel in Kraft gesetzt. Er brachte erstmals griffige Energiesparmassnahmen auf Bundesebene und Fördermöglichkeiten für erneuerbare Energien. So wurde beispielsweise eine Abnahme- und Vergütungspflicht für dezentral produzierten Strom eingeführt und die Vergütung auf 16 Rappen pro Kilowattstunde festgelegt.
Mit dem Energieartikel und dem Energienutzungsbeschluss war 17 Jahre nach dem auslösenden Impuls, der Ölkrise von 1973, also wichtige Meilensteine der schweizerischen Energiepolitik erreicht. Durch die Sunset-Klausel des Energienutzungsbeschlusses, der nur bis Ende 1998 gelten sollte, musste die Arbeiten zu einem Energiegesetz aber zügig an die Hand genommen werden. Mehr dazu in Teil 5 unserer Blogserie.
Marianne Zünd, Leiterin Abteilung Medien und Politik, BFE
Bild: KEYSTONE/Rolf Schertenleib
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