OLD Caption: Lukas Braunreiter arbeitet am Institut für Innovation und Entrepreneurship der ZHAW; Bild: ZHAW
NEW Caption: | Copyright: OLD Caption: ETH Energy Week 2022 opening event and exhibition on Monday, December 5th 2022 in Zurich. (ETH/Alessandro Della Bella)
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«Energieszenarien sind wie Eisberge»


Modellbasierte Energieszenarien spielen eine wichtige Rolle beim Wandel des Energiesystems. Sie können Entscheidungsgrundlagen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liefern. Doch bisher gibt es kaum Untersuchungen dazu, ob und wie Energieszenarien solche Entscheidungsprozesse unterstützen. Im SOUR-Projekt ProdUse («Closing the gap between model-based energy scenarios and its potential users to support evidence-based decision-making for the transformation of the Swiss energy system») gewannen die Forschenden Erkenntnisse, welche Faktoren die Nutzung und damit die Wirkung der Energieszenarien beeinflussen.

Lukas Braunreiter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Innovation und Entrepreneurship der ZHAW, hat dazu Forschende, die Energieszenarien erstellen, und potenzielle Nutzergruppen wie Behörden und Vertretende der Wirtschaft befragt. Dabei zeigt sich ein Graben: Auf der einen Seite steht die Wissenschaft, die immer detailliertere Szenarien erstellt. Auf der anderen Seite sind die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer, die sich einfach verständliche Informationen wünschen und über deren Bedürfnisse wir noch wenig wissen. Teil des Projekts war auch eine Case Study an der Energie-Ausstellung anlässlich der Energy Week der ETH Zürich im Dezember 2022, an der die Teilnehmenden unter anderem mit Augmented Reality Energieszenarien erleben konnten.
Lukas Braunreiter gibt Auskunft über die Resultate der Umfrage und über die Erkenntnisse, die er im Projekt gewonnen hat.

Lukas Braunreiter arbeitet am Institut für Innovation und Entrepreneurship der ZHAW; Bild: ZHAW

Energeiaplus: Herr Braunreiter, Ihre Umfrage zeigt, dass die Energieszenarien vor allem von der Wissenschaftsgemeinde und weniger von Politik und Wirtschaft genutzt werden. Wie lässt sich das erklären?
Lukas Braunreiter: Es treffen zwei verschiedene Welten aufeinander. Die Forscherinnen und Forscher haben wissenschaftsbasierte Interessen, sie halten sich an akademische Standards und Konventionen. Für sie ist wichtig, auf welchen Daten und Modellen die Szenarien basieren, sie möchten ihre Arbeit in Peer-Reviewed-Journals publizieren und die Szenarien im internationalen Umfeld weiterentwickeln. Für Entscheidungstragende in Politik und Wirtschaft hingegen sind die Hintergründe eines Szenarios zweitrangig. Sie wollen wissen, wie die Energiezukunft aussieht und wie sie die Informationen in ihrem Umfeld nutzen können.

Das heisst, für Politik und Wirtschaft sind die Energieszenarien wenig interessant?
Das würde ich nicht sagen, ganz im Gegenteil. Denn gerade bei Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Energieknappheit bieten die Energieszenarien viele hilfreiche Informationen. Diese kommen bei den Entscheidungstragenden in Wirtschaft und Politik aber noch zu wenig an.

Woran liegt das?
Es gibt sehr viele verschiedene mögliche Nutzerkategorien. Auf unsere Frage dazu nannten die Forscherinnen und Forscher in der Umfrage zahlreiche Gruppen von Politik und Wirtschaftsverbänden über Investorinnen und Architekten bis zur breiten Bevölkerung wie Hauseigentümerschaften. Allein das ist eine Herausforderung. Die verschiedenen Gruppen haben unterschiedliche Ansprüche, andere Entscheidungsprozesse und zum Teil spezifische Interessen an bestimmten Informationen. Hinzu kommt, dass für die Forschenden oftmals die technisch-ökonomische Perspektive im Vordergrund steht. Für die Anwenderinnen und Anwender sind aber auch sozialwissenschaftliche Aspekte relevant.

Welche sozialwissenschaftlichen Aspekte sollten denn in die Szenarien integriert werden? Können Sie Beispiele nennen?
Die Herausforderungen beim Umbau des Energiesystems sind meist nicht rein technisch-ökonomisch, oft sind soziale Aspekte zentral. So hat zum Beispiel die Akzeptanz von Energietechnologien einen gewichtigen Einfluss. Ein gutes Beispiel ist auch der Bereich Mobilität. Es gibt Szenarien, die detailliert prognostizieren, wie Elektromotoren die Verbrenner verdrängen und wie sich dadurch Stromverbrauch und CO2-Ausstoss verändern werden. Doch was geschieht, wenn die Menschen für kurze Strecken auf das Velo umsteigen oder wenn die Städte so gebaut sind, dass alles Nötige in 15 Minuten zu Fuss erreichbar ist? Solche Veränderungen werden in den heutigen Szenarien kaum berücksichtigt. Sie eröffnen aber interessante Lösungswege, die heute so nicht auf dem Tisch sind.
Wichtig zu erwähnen ist, dass die Wissenschaft derzeit grosse Anstrengungen unternimmt, um dies zu verbessern. Es wird vermehrt in partizipativen Prozessen gearbeitet, in denen die Haltungen und Interessen potenzieller Nutzergruppen abgefragt werden. Das ist auch international ein Trend.

Mit der Integration solcher Aspekte würden die Szenarien für nicht akademische Nutzergruppen greifbarer und interessanter. Dies bedingt aber, dass sie verständlich aufbereitet und kommuniziert werden. Wie lässt sich das bewerkstelligen?
Verständlichkeit ist auch den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern wichtig – sie verstehen darunter aber vor allem Transparenz. Für sie muss klar sein, woher die Daten stammen und dass sie öffentlich zugänglich sind. Hier tut sich wieder ein Graben auf. Denn den Nutzenden nützt diese Transparenz wenig. Sie haben weder das Wissen noch die Zeit, in öffentlichen Datenbanken nachzuforschen. Energieszenarien sind wie Eisberge: Alles, was die Modellierung betrifft, liegt unter Wasser. Die Nutzenden sehen aber nur den kleinen Teil, der aus dem Wasser herausragt, und sie interessieren sich auch nur für diesen Teil. Sie wollen lediglich wissen, wo der Eisberg liegt, wie gross er ist und wie sie ihn nutzen oder umfahren können.

ETH Energy Week 2022 opening event and exhibition on Monday, December 5th 2022 in Zurich. (ETH/Alessandro Della Bella)

Es braucht Vermittlerinnen und Vermittler, die für beide Seiten ein Verständnis haben und die Szenarien für verschiedene Nutzergruppen aufbereiten. Dieser Aspekt müsste bereits bei der Ausschreibung eines Projekts berücksichtig werden.

Um zu untersuchen, wie die Szenarien der breiten Öffentlichkeit vermittelt werden könnten, haben Sie im Rahmen des Projekts Case Studies durchgeführt, eine davon an der Energy Week der ETH Zürich. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse daraus?
An diesem Anlass wurden die Szenarien in verschiedenen Formaten aufbereitet. Man konnte zum Beispiel durch eine Virtual Reality-Brille sehen, wo es in der Schweiz künftig Solar- oder Windanlagen geben könnte, oder ein Video zeigte, wie der Umbau des Energiesystems ablaufen könnte. Wir haben untersucht, wie solche Formate bei den Besucherinnen und Besuchern ankommen und ob sich damit die Szenarien veranschaulichen lassen. Unser Fazit: Die Formate stiessen bei der Ausstellung auf grosses Interesse. Es war ein gelungenes Pilotprojekt in die richtige Richtung.

Eine letzte Frage: Oft kommen Energieszenarien gerade vor Abstimmungen in die Medien. Dabei kommt es vor, dass einzelne Szenarien herausgepickt und aus dem Kontext gerissen werden. Wie lässt sich das verhindern?
Verhindern kann man das kaum. Das Bedürfnis nach Schlagzeilen oder nach der Legitimation einer bestimmten politischen Position wird immer da sein. Diesbezüglich unterscheiden sich Energieszenarien auch nicht von anderen Forschungsarbeiten. Was bei Energieszenarien hinzukommt ist, dass eine Studie meist mehrere Szenarien enthält, darunter auch Extremszenarien nach dem Motto «Was wäre, wenn …». Wenn diese herausgepickt werden, um aufzuzeigen, ob der Umbau des Energiesystems grundsätzlich möglich ist, wird es schwierig. Wir müssen Verständnis dafür schaffen, was die Szenarien leisten können und was ihre jeweiligen Stärken und Schwächen sind. Hier sollten wir ansetzen. Nur so können Leserinnen und Leser solche Schlagzeilen einordnen. Da haben wir noch viel Arbeit vor uns.

Das Projekt ProdUse wurde im Rahmen des ersten SOUR Calls des Förderprogramms SWEET unterstützt. SWEET – «SWiss Energy research for the Energy Transition» – ist ein Förderprogramm des Bundesamtes für Energie (BFE). Ziel von SWEET ist es, Innovationen zu fördern, die wesentlich zur erfolgreichen Umsetzung der Energiestrategie 2050 und zur Erreichung der Klimaziele der Schweiz beitragen.

Christa Rosatzin-Strobel, Sprachwerk GmbH im Auftrag der Geschäftsstelle SWEET, Bundesamt für Energie (BFE)
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