45 Prozent beträgt der Digitalisierungsgrad der Schweizerischen Energieversorgungsunternehmen (EVUs), gemäss der Monitoringplattform digital.swiss. Die Energiebranche habe noch viel Potenzial in Sachen Digitalisierung, meint auch Oliver Gassmann, Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der Universität St. Gallen. Wir haben mit dem Ökonomen über die Energiebranche und deren Stand in der Digitalisierung gesprochen.
Was bedeutet die Digitalisierung für die Schweizer Energiebranche?
Die Digitalisierung ist ein Katalysator für den Umbau der Energielandschaft. Denn mit der Digitalisierung kann die dezentralisierte Produktion intelligent synchronisiert werden. Intelligente und vernetzte Produkte können zudem die Energieeffizienz erhöhen.
Ist die Digitalisierung für die Energiebranche eine Chance oder ein Risiko?
Für Energieversorger ist sie eher eine Bedrohung, insbesondere für Energieversorgungsunternehmen (EVU) mit wenig direkten Endkundenkontakten. Für plattformorientierte Start-ups hingegen kann die Digitalisierung aber einen Einstieg in die Industrie bedeuten, da klassische Markteintrittsbarrieren von Quasi-Monopolisten wegfallen.
Weshalb stellt die Digitalisierung eine Bedrohung für EVUs mit wenigen Endkundenkontakten dar?
Bislang war die Produktion und der Handel mit Strom sehr profitabel. Durch die Dezentralisierung der Produktion, nachhaltige Energien und dem Trend zum Prosumer, also produzierenden Endkonsumenten, hat sich dies stark verändert. Es ist nun wichtiger geworden, wer die letzte Meile beherrscht und dem Endkunde Mehrwert stiftet. Serviceorientierung und Kundennähe sind zum Wettbewerbsfaktor geworden.
Wie nehmen Sie die Digitalisierung in der Energiebranche wahr?
Die Energiebranche ist im Vergleich zu anderen Dienstleistungssektoren eine Industrie mit noch viel Potenzial in Sachen Digitalisierung. Zu viele Führungskräfte verstecken sich hinter dem öffentlichen Leistungsauftrag. Innovation und neue Geschäftsmodelle erzeugen aber nicht nur wirtschaftliche Lösungen sondern auch mehr Effizienz und Kundennähe. Mir persönlich geht hier noch vieles zu langsam. Dies liegt aber auch daran, dass die Industrie keine digitale DNA hat. Die besten Softwareentwickler gehen lieber zu Google oder IBM.
Wie sieht der Vergleich international aus?
Die Schweiz verfügt im internationalen Vergleich generell über eine gute solide Infrastruktur in Sachen Internet und Digitalisierung. Dies sind hervorragende Voraussetzungen, die Energiewelt auf digitale Fundamente zu stellen. Bei der Entwicklung und Anwendung von Smart Metern als eine digitale Kerntechnologie im Energiebereich hinkt die Schweiz aber eher etwas hinterher.
Wer sind die Innovationstreiber in der Schweizer Energiebranche?
Start-ups haben keine Altlasten, keine Pfadabhängigkeiten und keine wirtschaftliche Trägheit aufgrund von bestehender Infrastruktur. Sie sind daher häufig die Treiber für Innovation. Gleichzeitig weisen auch alle grossen Akteure derzeitig Innovationsanstrengungen auf. Aber keine Branche kann sich langfristig dem Innovationsschub durch die Verschmelzung der realen Welt und der digitalen Welt entziehen.
Es gibt immer mehr Stromversorger, welche Apps für ihre Kunden anbieten. Wie schätzen Sie den Zusatznutzen des Apps für den Kunden ein?
Die Frage muss eigentlich breiter gestellt werden: Für wen schafft die App einen Mehrwert? Die App kann auf der Prozess-Seite der EVUs Probleme lösen und den Kunden somit in den Co-Creation-Prozess einbinden (z.B. Zählerdaten digital einreichen), oder Kundenprobleme lösen. Wichtig ist bei der ganzen App-Hysterie, dass auch relevante Probleme gelöst werden. Oft erhalte ich den Eindruck, dass Apps eine Art Selbstzweck erhalten – und dann von den Kunden nicht verwendet werden.
Was muss ein Energieunternehmen machen, um in Zeitalter der Digitalisierung zu überleben?
Es muss rascher lernen, als sich die Umwelt verändert. Hierzu hilft es, näher zum Kunden zu kommen. Das Experimentieren mit neuen Dienstleistungen und neuen Geschäftsmodellen wird essenziell. In unseren Projekten haben wir die Erfahrungen gemacht, dass dabei Customer Journeys, also die Brille des Kunden aufzusetzen, sehr dabei helfen.
Zur Person:
Oliver Gassmann ist seit 2002 Professor für Technologie- und Innovationsmanagement sowie Direktor des Instituts für Technologiemanagement an der Universität St. Gallen. Zuvor war er als Leiter der Konzernforschung von Schindler tätig. Gassmann ist unter anderem Gründer vom Business Model Innovation (BMI) Lab der Uni St. Gallen und Mitglied der Forschungs-und Bildungskommission von Economiesuisse und mehreren Verwaltungsräten. Er publizierte bisher über 350 Fachpublikationen und hat diverse Preise als einer der meistzitiertesten und einflussreichsten Management- und Innovationsforscher gewonnen.
Interview geführt durch Selina Zehnder, Hochschulpraktikantin Medien + Politik, BFE
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!